Dienstag, 15. September 2015

Auf der Spur der Geschichte - Einen blinden Punkt anpeilen: die ehemalige Düneberger Pulverfabrik

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Auf einem der regelmässigen Spaziergänge des Förderkreises für ein Industriemuseum Geesthacht habe ich viel über die Geschichte der Düneberger Pulverfabrik erfahren. Es war höchst interessant. Ich bin zu diesem Anlass extra aus Barcelona gekommen. Das Thema war "Deutsches Pulver für die Welt". 

In den letzten Jahren hatten verschiedene Geschehnisse mir verdeutlicht, dass die Pulverfabrik ein blinder Punkt in meinem Leben war und dass ich gut daran täte, mehr darüber herauszufinden. Ich habe das Gefühl, dass ich an diesem Wochenende in tiefe Wurzeln meines Wesens eingetaucht bin, die mir Kraft, Festigkeit und Geistes- oder Seelennahrung liefern. Solange sie in Vergessenheit getaucht waren, gingen Empfindungen wie Scham, Angst, Wut und Schuld von ihnen aus. Erst als es mir gelang, den Knoten in meinem Bauch, der dort seit frühester Kindheit war, ein wenig zu lockern, wurde es möglich, diese Gefühle zu benennen und auch zu hinterfragen und Hinweise auf den Kontext ihres Entstehens zu entdecken. Oft genug erschienen sie ohne klar ersichtlichen Grund, oder aufgrund von Ereignissen, mit denen die Heftigkeit dieser Gefühle nicht übereinstimmte. Sie gehörten zu einem Muster, das sich ständig wiederholte, negative Auswirkungen auf meine Gesundheit und mein Wohlbefinden hatte, und mein Leben in beruflicher und privater Hinsicht behinderte. Die Arbeit der Mustererkennung hat mir Spuren gezeigt, die in dieses Gelände führten. Als ich erfuhr, dass mein Grossvater dort Offizier der Wache gewesen war wurden sie konkret. Sein Verhalten in späteren Jahren zeigt, dass er, was auch immer er dort erlebt hat, nicht verarbeiten konnte. Er hat es verdrängt und ich habe es von ihm übernommen, direkt von Körper zu Körper, Geist zu Geist übertragen, und sicherlich auch über meinen Vater, ganz automatisch, ohne es zu wissen, denn das ist so in der menschlichen Natur. 

Auf dem offiziellen Spaziergang am morgen ging es hauptsächlich um die noch vorhandenen Gebäude und um viele, die inzwischen nicht mehr stehen.

 

Hier kam eine Erinnerung aus meinem eigenen Leben: Auf diesem Hof bekam ich meinen ersten Kuss von einem gewissen Carlos, an den ich mich ansonsten überhaupt nicht mehr erinnern kann. Jetzt habe ich erfahren, dass dies ein Verwaltungsgebäude der Pulverfabrik gewesen war. Davon hatte ich damals keinen blassen Schimmer. Auch dass das Gymnasium, wo ich zur Schule ging, mal die Versorgungsanstalt gewesen war, hatte ich erst vor ein paar Jahren in einem Geesthachter Geschichtsbuch gelesen, dass mein Vater mir vermacht hat.

 
Der Referent Jochen Meder, hat uns viel über jedes einzelne Gebäude erzählt, über die noch bestehenden, genauso wie über viele der verschwundenen, über Produktionsabläufe und vieles mehr. In diesem Gebäude, das etwas mit der Energieversorgung der Fabrik zu tun hatte und nach dem Krieg Sammelstelle für Schrott als Reparaturleistung an England, ist jetzt ein Café und Veranstaltungslokal mit Kunstgewerbeladen. Dort werde ich im Rahmen der 800-Jahres-Feier von Geesthacht und der Alfred-Nobel-Tage in Dezember 2016 einen Vortrag halten darüber, wie man die Spuren der Geschichte im eigenen Körper erkennen und von ihnen lernen kann, liebevoll mit sich selbst und anderen umzugehen, die eigene Gesundheit, die unserer Nachfolger und die der Natur zu schützen, und überhaupt ein glückliches und befriedigendes Leben zu führen.

 

Die Perle, Verwaltung auf höherer Ebene und Direktorenwohnung. Später, in den 70er Jahren, als ich schon weg war aus Geesthacht, Künstlerkollektiv.

Am Nachmittag kam dann der zweite Spaziergang, den man gesondert anfordern kann und der für mich am wichtigsten war, denn auf solchen Wegen ging ich mit meinem Grossvater spazieren. Erst vor zwei Jahren erfuhr ich, dass mein Grossvater Offizier der Wache gewesen war in der Pulverfabrik. Ich hatte ein Photo von ihm gefunden in der Uniform eines Offiziers der Wehrmacht. Darüber wurde in meiner Familie nie gesprochen, jedenfalls nicht in meiner Gegenwart. Ich fragte eine Tante, die letzte, die noch am Leben ist, die etwas darüber wissen konnte. Es war nur wenig, denn sie war damals ein kleines Mädchen.

Hier fanden wir die Ruinen, die ich aus meiner Kindheit und Jugend erinnerte, die ich immer für ausgebombte Bunker gehalten hatte. Jetzt erfuhr ich, dass es Walzwerke gewesen waren, Presswerke, Drehwerke, Transferstationen, Geschosslager....




Seit vielen Jahren übe ich es, beim Ausatmen Dinge loszulassen, die mein Körper mit unwillkürlicher Spannung festhält. Die Atmung wird von dem selben autonomen Teil des Nervensystems reguliert wie der Gewebetonus, die unwillkürliche Spannung unserer Muskeln. Das Ausatmen ist eine Bewegung der Entspannug; hier lassen die Muskeln, die beim Einatmen gearbeitet haben, los. Wenn man sich dafür Zeit nimmt, so richtig in sich hineinzuruhen, kann man aus der Tiefe des Lebewesens, welches man selbst ist, die Unterstützung des Fussbodens spüren, das heisst, man kann in sich ruhen, in der Tiefe des eigenen Wesens und in der materiellen Welt, von der wir alle ein Teil sind.




Auf diese Art bin ich der Geschichte überhaupt erst auf die Spur gekommen, denn immer wenn es mir gelingt, unwillkürliche Spannung zu lockern, kommt Information zum Vorschein. Man muss es nur lernen, diese Information auch zu verstehen und in den richtigen Zusammenhang zu bringen. Wenn das gelingt, dann löst sich Spannung. Es scheint so, als ob der Körper Erinnerungen und Empfindungen festhält, die gewusst werden wollen. Und wenn die Botschaft angekommen ist, kann der Bote ruhen. Sie kann dann in bewusste Erfahrung eingebunden werden; man kann Schlussfolgerungen ziehen, Zusammenhänge erkennen, das Verhalten anderer sowohl als auch das eigene verstehen, und sich um Dinge kümmern, die manchmal schon seit Generationen auf Verständnis, eine Lösung oder zumindest Erkenntnis warten.


Wir redeten nicht viel, als ich meinen Grossvater auf seinen Spaziergängen in diesem Gelände begleitete. Ich war damals, fünf, sechs, sieben... Das unangenehme Gefühl im Bauch war eigentlich immer da. Ich wäre damals nie auf den Gedanken gekommen, es mit ihm oder sonst wem in Verbindung zu bringen. Ich dachte, es läge daran, das mit mir irgend etwas nicht in Ordnung war. Aber ich traute mich nicht, das jemandem zu sagen. Ich strengte mich eben an, so zu sein, wie es normal erschien.


Wenn ich versuche mir vorzustellen, wie die Leute sich damals gefühlt haben, als hier Schiesspulver hergestellt wurde, Leute, die freiwillig dort arbeiteten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen und andere, die als Zwangsarbeiter aus besetzten Gebieten herangeschleppt wurden, bin ich mir sicher, dass Sich-Zusammenreissen und Knoten im Magen an der Tagesordnung waren. Ich kann mir kaum vorstellen, wie es für meinen Grossvater gewesen sein muss, dort Wache zu schieben. Ich habe mir Dokumentarfilme angeschaut und Spielfilme über die beiden grossen Kriege und das Dritte Reich. Wenn ich das Gefühl des tonnenschweren Schweigens damit verbinde, welches auf meiner Kindheit und Jugend lastete, bekomme ich eine leise Ahnung. Es ist kein Wunder, dass mein Grossvater einem kleinen Mädchen nichts davon erzählen wollte. Es ist kein Wunder, dass niemand mehr daran denken wollte, und alle so schnell wie möglich all das hinter sich lassen und  in die Zukunft schauen wollten.

 

Aber wie kann man denn eine Zukunft aufbauen, ohne zu verarbeiten, was geschehen ist? Wie kann man etwas verarbeiten, über das man nicht sprechen mag, an das man nicht denken mag? So sehr man sich auch anstrengt, es aus dem Bewusstsein zu verdrängen, die Spannung, die man dazu benutzt, hält es fest. Zwar spürt man es nicht mehr direkt, aber unterhalb der Bewusstseinschwelle schwelt es weiter. Man hat sich zusammengerissen und über das Schreckliche hinweggesetzt. Man meint, man hat es hinter sich gelassen. Tatsächlich trägt man es ständig mit sich herum. Da man es in sich selbst nicht mehr erkennen kann, sieht man nur noch den Schatten davon, der auf andere fällt. Man projiziert auf andere, was man in sich selbst nicht aushält. 


Kleine Kinder sind überaus empfindsam. Sie spüren auch das, worüber Erwachsene sich durch Sich-Zusammenreissen hinwegsetzen, was sie durch übermässiges Essen polstern, in Alkohol ertränken und anderweitig betäuben wollen. Kinder fühlen es im eigenen Körper, ohne jegliche Möglichkeit zu verstehen, dass das, was sie da fühlen, eigentlich Empfindungen ihrer Eltern und anderer Erwachsene in ihrem Umfeld sind, die diese nicht ertragen. Eigentlich sind wir alle so empfindsam, nicht nur Kinder. Denken Sie mal daran, wie sie sich gefühlt haben, als sie neben jemandem standen, der wütend war, oder traurig, oder bei jemandem, der Angst hatte. Sie können das tatsächlich in ihrem eigenen Körper spüren. Man nennt es Empathie. Manche Leute haben mehr davon als andere. Persönlich glaube ich, dass manche Leute mehr davon zulassen als andere. Manche Leuten halten es ganz einfach nicht aus, sich selbst zu spüren, geschweige denn andere.



Der Knoten in meinem Bauch ist um einiges lockerer geworden. Ich hatte eine ganze Menge Stress die letzte Woche, aber der Knoten hat sich nicht spüren lassen. Ich bin ganz ruhig geblieben, wo ich mich sonst wahrscheinlich viel mehr aufgeregt hätte. Ich glaube, ich habe so einiges an alter Spannung aus meiner Kindheit dort im Wald lassen können, oder es zumindest in seiner Ausdrucksform verändert.


Dank des Förderkreises für ein Industriemuseum Geesthacht sind viele Gebäude der Stadt inzwischen unter Denkmalschutz, und die noch vorhandenen Belege der Geschichte werden gesammelt. Ein solches Museum ist von grosser Bedeutung. Für viele ist es ein unangenehmes Thema, woran man nur ungern erinnert wird. Darum ist es wahrscheinlich so schwer, die zuständigen Ämter und im Fall des Krümmler Dynamitwerks die schwedischen Firma Vattenfall dazu zu bewegen, den alten Wasserturm herzurichten und zur Verfügung zu stellen, damit dieses Museum darin untergebracht werden kann, ehe noch mehr verloren geht. Wenn es sich auch um ein explosives und wohl peinliches Thema handelt, ist es ganz besonders wichtig, die Erinnerung zu wahren, denn was der Mensch nicht erinnern will, wiederholt er.





Mit den Gefühlen umzugehen, die dabei freigesetzt werden, kann man lernen. Wenn sie aber im Körper bleiben, schwelen sie, bis sie zu Krankheitsherden werden. Selbst wenn sie das schon geworden sind, ist es heilsam und erleichternd, wenn man die Gefühle, die man von frühreren Generation übernommen hat, dort lassen kann, wo sie hingehören, bei den Leuten, denen sie gehören. Das geht bei Empfindung, die ohne Bewusstsein ihrer Herkunft direkt von Körper zu Körper, Geist zu Geist übertragen wurden. Wenn man sie dann im grösseren Zusammenhang des persönlichen und kollektiven geschichtlichen Hintergrundes sieht, kann man vieles verstehen und zur Ruhe kommen lassen.



Es dreht sich hier nicht darum, die Schuld für das eigene Empfinden bei anderen zu suchen oder die eigene Verantwortung abzulehnen. Ganz im Gegenteil, es dreht sich darum, die Verantwortung zu übernehmen, dass zu verarbeiten, was in unserer Macht steht, ob es nun unsere eigenen Empfindungen sind oder solche, die wir von anderen übernommen haben. Es dreht sich darum, dies unterscheiden zu lernen. Empfindungen sind dazu da, um uns über unsere Wünsche und Bedürfnisse zu informieren und deren Grad an Befriedigung. Auf dieser Ebene bringt die Befriedigung egoistischer Wünsche und Bedürfnisse keinerlei Erleichterung, im Höchstfall eine momentane. Auf dieser Ebene der Erfahrung nützt nur die Wahrheit, die gewusst werden will. Die Wahrheit ist, dass alles Lebendige zur selben Familie gehört. Was der Gesamtheit schadet, schafft Leiden. Was ihr nützt, bringt Freude.




Wenn auch diese Laterne kein Licht mehr spendet, möge das Licht des Bewusstseins das Handeln und die Entscheidungen der Menschen erhellen, so dass die Herstellung von Waffen und Munition und schädlicher Produkte jeder Art in der ganzen Welt ab sofort eingestellt wird! Die Bäume erschaffen den Sauerstoff, den wir brauchen, um zu leben. Viele Menschen erschaffen Dinge, die wir brauchen, um gut zu leben. Lasst uns alle so handeln, dass es anderen dabei hilft, auch gut zu leben, damit es uns allen miteinander gut gehen kann.

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