Donnerstag, 21. September 2017

Der König der keine Ruhe fand - Ein Märchen

Es war einmal ein König. Der war sehr traurig, weil er keinen direkten Nachkommen hatte. Er war krank und wuβte, daβ er nicht lange leben würde. Ihm war klar, daβ sein Gesundheitszustand auf die Sünden seiner Vorfahren zurückzuführen war, aber daβ auch der Machthunger seiner Zeitgenossen dazu beitrug, war nicht ganz auszuschlieβen. Seine Sorge war groβ. Zum einen hatten die Militärausgaben seiner Vorgänger die Bevölkerung der Königreiche, die ihm unterstanden, verarmt. Er hatte sich bemüht, die Steuerbelastung seiner Untertanen zu lindern, indem er die Ausgaben für Militär drastig senkte, und das war ihm auch gelungen, denn den einfachen Leuten ging es allmählich besser. Aber seine Position als König war nicht sehr stark. Vielen Edelleuten und Befehlshabern der Armee war er ein Dorn im Auge, denn die wollten nicht auf die Privilegien verzichten, die sie bisher innehatten. Ganz im Gegenteil, sie wollten mehr.

Die Völker seines Reiches waren sehr verschieden. Die Bewohner von Nogara waren stets bemüht, ihren Beitrag zur Regierung und Regulierung des öffentlichen Lebens zu leisten. Sie hatten groβes Durchhaltevermögen. Wenn sie sich einmal etwas vorgenommen hatten, gab es nichts, was sie von dem gewählten Weg abbringen konnte. Ein Grundsatz, den alle befolgten, hieβ: Wenn man mit einander redet, kann man einander verstehen, denn miteinander reden bedeutet auch, zuhören zu können. Und so gab es in der Organisation dieses Landes Institutionen, in denen die Bürger miteinader reden und sich an der Regierung des Landes beteiligen konnten.  Diese Art die Macht der Regierung zu verteilen, war dem König lieber als die Zentralgewalt, die er in Sticalla ausüben sollte.

Die Bewohner von Sticalla neigten gröβtenteils dazu, die Verantwortung für die eigenen und die gemeinsamen Belange des Reiches der Zentralgewalt des Königs und der Aristokratie zu überlassen. Die Edelleute waren eher kriegerisch veranlagt. Viele von ihnen waren Abenteurer, stets darauf aus, andere Völker zu erobern und zu unterwerfen und deren Reichtümer zu ergattern, genauso wie sie es mit den Früchten der Arbeit der Untertanen ihres eigenen Landes taten.

Der König fürchtete, daβ die Krieger und Abenteurer von Sticalla über die Bewohner von Nogara herfallen würden, wen auch immer er als seinen Nachfolger bestimmte. Zwei Kandidaten gab es in der Erbfolge, aber er traute keinem von beiden zu, beide Länder den Eigenschaften und Fähigkeiten der Einwohner gemäβ regieren zu können. Die einen brauchten die Möglichkeit sich an den Regierunggeschäften zu beteiligen, um die Wirtschaft und Kultur des Landes zur vollen Blüte zu bringen. Die anderen kamen nicht ohne die Leitung der Zentralgewalt aus.

Dann kam einer der Kandidaten plötzlich durch einen ungeklärten Unfall ums Leben. Der andere war Enkel der personifizierten Zentralgewalt, mit dem konnte man für Bürgerbeteiligung an der Regierung nicht rechnen. Der wurde nun als Erbe eingesetzt. Der König war sich sicher, daβ sein Nachfolger Nogara unverzogen der Zentralgewalt unterwerfen würde, denn er folgte seinem Groβvater aufs Wort. Um das zu verhindern, machte er ein Testament in dem er festlegte, daβ sein Nachfolger auf jeden Fall die unterschiedlichen Regierungsformen der Länder des Reiches zu wahren hätte. Er konnte nur hoffen, daβ sein Erbe durch Übung lernen und letztenendes den Anforderungen gerecht werden würde. Zunächst einmal wollte er ihn auf die Probe stellen und ihm die Möglichkeit geben zu lernen, die verschiedenen Wesensarten der Völker des Reiches wahrzunehmen, zu respektieren und zu schätzen zu wissen.

Doch noch bevor er die Probe öffentlich ankündigen konnte, starb der König plötzlich. Es ist nicht auszuschlieβen, daβ jemand dafür sorgte, ihn von der Bildfläche zu schaffen. Und es geschah, was er befürchtet hatte: Krieg und Gewaltherrschaft. Jahrhundertelang. Nicht nur in den Ländern seines Reiches, die in „ein groβes Vaterland“ namens Neinpas gezwängt wurden, sondern überall. 

Der König lag nun im Grab und fand keine Ruhe; ständig drehte er sich um seine eigene Achse und bekreuzigte sich: „Mein Gott! Es ist kaum zu glauben!“ Um die Art wie seine Person der Nachwelt dargestellt wurde, machte er sich weiter keine Gedanken, aber was mit der Bevölkerung der Länders seines Reiches geschah, das lieβ ihm keine Ruhe. „Wie kann man diesen Menschen nur klarmachen, daβ in der Verschiedenheit der Völker ihr Reichtum besteht! Man muβ ihnen doch Raum geben, sich zu entfalten. So geht das doch nicht! Ich kann hier doch nicht ruhig im Grab liegen, wenn die eine so grundlegende Erkenntnis einfach übergehen! Die Habgier und der Machthunger dieser Leute gehen wirklich auf keine Kuhhaut! Was soll ich denn bloβ tun? Was kann ich den bloβ tun?“ Die Gefolgsleute seines Nachfolgers legten Marmorplatten aus das Grab und groβe Gesteinbrocken. Aber die Marmorplatten brachen und die Gesteinsbrocken rollten zur Seite, denn der tote König drehte sich und drehte sich immer wieder um seine eigene Achse und kam nicht zur Ruhe.

Wenn sein lebloser Körper auch keine Stimme mehr hatte, wurde sein Klagen doch von einer Kraft wahrgenommen, die in der Lage ist, je nach Bedarf  alle möglichen Gestalten anzunehmen, um denen zu helfen, die sie rufen, und sie aus der Not zu befreien. Wenn der König in seiner Not noch zu Lebzeiten seine Gedanken auf die Kraft der Wahrnehmung der Klänge der Welt ausgerichtet hätte, wäre sie unverzüglich zu seinem Beistand erschienen. Doch er hat immer nur darüber nachgedacht, was er tun soll. Daβ die Wahrnehmung der Klänge der Welt ihm dabei hätte helfen können, eine praktische Lösung zu finden, darauf ist er nicht gekommen.

Die Wahrnehmung der Klänge der Welt hilft unverzüglich allen, die an sie denken. Sobald man sein Denken auf die Wahrnehmung der Klänge der Welt richtet, eilt sie einem zur Hilfe und leistet Beistand in jeder Lage. Ihr Mitgefühl, ihre Barmherzigkeit, ihre Kraft und ihre Fähigkeiten kennen keine Grenzen.

Trotz aller Widrigkeiten war in der Bevölkerung von Nogara auch über Jahrhunderte hinweg die Absicht unerschöpflich, ein Regierungsystem mit Beteiligung der Bevölkerung wiederherzustellen. Unerschöpfliche Absicht steht allen bei, die sich auf sie verlassen. Unerschöpfliche Absicht weiβ  wie wichtig die Wahrnehmung der Klänge der Welt ist für eine erfolgreiche Durchführung von Unterfangen jeder Art ist, und wie groβ ihre Bedeutung ganz besonders in Zeiten von Gefahr und Bedrohung ist. Wie hilft die Wahrnehmung der Klänge der Welt denen, die sich an sie wenden? Wenn man in Bedrängnis ist und an die Kraft der Wahrnehmung der Klänge der Welt denkt, eröffnet sich unversehens ein Weg ins Freie. Ein Mensch mit unerschöpflicher Absicht weiβ die Kraft der Wahrnehmung der Klänge der Welt zu schätzen und widmet ihr voller Freude sein kostbarstes Gut. Das leitet sie sogleich weiter an die absolute Erkenntnis der kostbaren Vielfalt aller Lebensformen.

Über die Jahrhunderte hinweg ist die Unerschöpfliche Absicht ständiger Begleiter eines jeden der bereit ist, Konflikte durch Gespräche beizulegen. Einmal gelang es sogar für ein paar Jahre in Neinpas, den mit Waffengewalt vereinigten Ländern Nogara und Sticalla, ein Regierungmodell einzuführen, daβ voll und ganz in den Händen der Bevölkerung lag, zum Wohle aller Bürger. Im Grab des Königs, der bisher keine Ruhe gefunden hatte, wurde es still in diesen Jahren. Es wuchsen sogar Blumen darauf. Doch den Kriegern und Abenteurern gefiel der Zustand überhaupt nicht, obwohl er ihnen eigentlich viel besser bekam. Aber auf ihre Privilegien zu verzichten, nein, dazu waren sie nicht bereit. Also machten sie wieder Krieg. Auf Gespräche lieβen sie sich nicht ein, mit niemandem. Da müβte man ja die Klänge der Stimmen anderer wahrnehmen. Nein, dazu waren sie nicht bereit. Wenn überhaupt, dann hörten sie nur den Klang der eigenen Stimmen, aber selbst das schien ihnen zuviel verlangt. Denn sobald sie still genug waren, um etwas wahrzunehmen, spürten sie in ihrem Innern den Druck von all den Empfindungen, die sie jahrelang unterdrückt hatten. Das war zuviel. Das hielten sie nicht aus.

Dann enstanden im Umfeld des Reiches Gemeinschaften zwischen verschiedenen Ländern, an denen auch Neinpas teilnehmen wollte. In dieser Hinsicht war man sich einig. Nun muβten die Schwertrassler doch lernen, Gespräche mit anderen zu führen. Doch es fiel ihnen schwer, die Sprachen anderer Länder zu lernen. Und zuhören überhaupt ging ihnen gegen den Strich, selbst wenn das Gesagte in der eigenen Sprache war, insbesondere wenn es aus dem dialogfreudigen Nogara stammte. 

Eine Schuld einzugestehen, selbst im eigenen inneren Gerichtshof des Gewissens, stellte für die Zentralgewalt von Neinpas einen Verlust von Prestige dar, der ihr unerträglich schien. Aber jeder Einzelne, ohne Ausnahme, gehört zur kostbaren Vielfalt aller Lebensformen und kann eine Schuld nicht verbergen, so sehr er auch versucht, sie auf andere abzuschieben, sich zu rechtfertigen oder sich hinter Gesetzen zu verstecken, die extra zu diesem Zweck verabschiedet wurden. Doch Gesetze, die im Widerspruch zu der Gesetzmässigkeit eines friedvollen Zusammenlebens stehen, bringen im Endeffekt nur Schaden für alle. Auch wenn man selbst es nicht bemerkt, wird man früher oder später Dinge tun, die die Schuld klar und deutlich für alle (anderen) sichtbar machen.

Zum Beispiel erlitt einmal ein mit Erdöl gefüllter Tanker namens Prestige Schiffbruch ganz in der Nähe von Neinpas, wenige Jahrhunderte nach Verscheiden des traurigen Königs. Statt alle zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um den Schaden so gering wie möglich zu halten, beschloβ die Zentralregierung, ihn aus den Landesgewässern hinaus ins offene Meer zu schleppen, wo er dann ganz auseinanderbrach. Der Schaden wurde so unermeβlich viel gröβer und erreichte unüberschaubare Ausmaβe. Der Schiffbruch des Prestiges von Neinpas war nun offen ersichtlich für jeden, der hinschaute. 

Erdöl besteht ja aus den sterblichen Überresten der Vorfahren aller heutigen Lebewesen. Seit geraumer Zeit geht es bei Territorialfragen und der Zugehörigkeit zu einem Land oder einem anderen darum, sich den Zugang zu diesen sterblichen Überresten unserer Vorfahren zu sichern, nicht etwa um ihnen die Ehre zu erweisen, wie es ihnen gebührt, sondern um Macht über andere zu gewinnen, und sich persönlich zu bereichern. Es passte genau in die Tradition von Neinpas, an Feldzügen teilzunehmen, um mit Waffengewalt einen Zugang dazu zu erzwingen.

Die Vielseitigkeit der Beziehungen und Verbindungen der Bevölkerung von Nogara, die mit einander und mit anderen sprachen, sich gegenseitig halfen und stets mit Unerschöpflicher Absicht verbunden waren, war der Zentralregierung weiterhin ein Dorn im Auge. Insgeheim fühlte sie sich dadurch bedroht. Eben weil die Schuld der Vorfahren und die eigene unterhalb der Schwelle ihres Bewuβtseins lag, konnten sie nicht wirklich offen und von ganzem Herzen mit anderen sprechen. So sehr sie sich auch auf die Rechtmässigkeit ihrer Ansprüche beriefen, im Grunde war jeder von ihnen doch einsam und alleine.

Dann war die Zeit reif für das Volk, das mit Unerschöpflicher Absicht sich Schritt für Schritt darauf vorbereitet hatte, die Leitung der eigenen Angelegenheiten in die Hand zu nehmen. Doch wollten sie zunächst die Wahrnehmung der Klänge der Welt befragen, denn es war ihnen wichtig, nichts zu unternehmen, was nicht mit ihr im Einklang läge.

Die Zentralregierung wollte die Kraft der Wahrnehmung der Klänge der Welt auf gar keinen Fall zum Zuge kommen lassen. Doch das war ungefähr genauso realistisch, wie einen Ozean mit einem Wasserglas leer schöpfen zu wollen.

Ob der König jemals seine Ruhe finden wird, kann man jetzt noch nicht wissen. Man wird ja sehen, was geschieht. Die Erzählerin überläβt es der Unerschöpflichen Absicht des Volkes von Nogara, widmet ihre volle Aufmerksamkeit der Wahrnehmung der Klänge der Welt und bemüht sich, der absoluten Erkenntnis der kostbaren Vielfalt aller Lebensformen jederzeit zutiefst verbunden zu bleiben.

Und wenn sie alle nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Dies ist ein Märchen. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Personen und Geschehnissen sind beabsichtigt. Wie viele Märchen, beruht auch dieses auf Überlieferung archetypischer Muster und erhebt keinen Anspruch auf genaue Darstellung von Einzelheiten.

11. September 2017

Brigitte Hansmann
DFA Reconocimiento de Patrones Somáticos
Análisis de Patrones Arquetípicos
www.dfa-europa.com 

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